Veranstaltungen aus dem Jahr 2020:
"Böhmische Holunderblüten"
von Gerti Brabetz
Sonntag, 11. Oktober 2020, 11 Uhr, im Cineplex Marburg
Gerti Brabetz liest aus ihrem Buch "Böhmische Horlunderblüten"
Foto: Karl-Hans Schumacher
Als Ganzes mehr sein
als seine Teile
Es ist ja schon Tradition im Kampf gegen die Traditionen, dass die Protagonistin eines Romans, der von einer Frau geschrieben ist, wieder einmal feststellt, dass sie als Ganzes mehr ist als ihre Teile. Wobei unter Teile die Männer, die Kinder, die Familie, die Verwandtschaft, Dorfgemeinschaft und vieles mehr zu verstehen ist. Die Gegenfrage, was eigentlich die Protagonistin ist ohne all diese Teile, wird in der Regel nicht gestellt, obwohl sie genauso interessant sein mag. Das Risiko der Selbstbestimmung und der Selbstfindung ist, dass man gegebenenfalls am Ende überhaupt nichts findet. Das Subjekt an sich ist eigentlich der dunkle Brunnen, dessen Schacht durch nichts mehr erleuchtet wird.
Andererseits sind Schicksale eben Schicksale, die von Menschen erlitten werden. Und so war ein uneheliches Kind in vorhergehenden Zeiten für die zumeist sehr junge Frau, ja wenn nicht sogar für ein Mädchen, ein verheerendes Ereignis.
Gibt einerseits die Tradition und der Konsens der menschlichen Gemeinschaft Halt, Sicherheit und Identität, so errichten sie auch Grenzen und Regeln, die eingehalten werden sollen. Der Widerstreit zwischen individueller Freiheit und kultureller Norm ist so alt wie der Streit zwischen Kain und Abel, nur das im ersten Fall es nicht so klar zu unterscheiden ist, wer der Bösewicht ist.
Foto: Karl-Hans Schumacher
Gerti Brabetz verdeutlicht die Schicksale der verschiedenen Figuren in ihrem Roman sicherlich aus weiblichem Blickwinkel, bewahrt aber eine gewisse Objektivität in der Beurteilung der jeweils widerstreitenden männlichen und weiblichen Kontrahenten.
Es gelingt ihr szenenhafte Einblicke und Fortläufe verschiedener Liebespaare zu verschiedenen Zeiten der Familiengeschichte anschaulich und detailreich vor Augen zu führen, ohne sich in den Zeitebenen zu verheddern. Die Beschreibungen, Stimmungs- und Naturbilder sind deutlich und überzeugend entworfen und haben auch weitgehend die stilistische Funktion, Ereignisse zu kommentieren und kommende anzudeuten, sodass der Leser seine Erwartungen ausbauen kann.
Die ruhig und gleichermaßen spannungsvoll vorgetragenen Teile - hilfreich unterbrochen durch kleine Inhaltszusammenfassungen des jeweils Kommenden - weisen auf einen Roman hin, dessen Inhalt und Qualität sicherlich die Obhut eines relevanten Verlages verdient hätte, einen von jenen, die in den derzeit aktuellen Buchhandlungen wie Thalia und den Bahnhofsbuchhandlungen vertreten werden.
Dass ein Buch nicht seinen ihm eigentlich angemessenen Verlag findet, ist ein sich häufig wiederholendes bedauerliches Ereignis, ganz unabhängig davon, ob nun das Buch von einer Frau oder von einem Mann geschrieben ist.
Oberhessische Presse