Das einfache Leben –Diogenes in der Tonne-Nickel-25-05-2017 - Verlag-Blaues-Schloss

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Veranstaltungen 2017


              Dr. Rainer Nickel
    
         Das einfache Leben –
             Diogenes in der Tonne
 
              Uni im Café,   So, 28. Mai 2017,
              Café Vetter, Marburg








„Diogenes und die bösen Buben von Korinth“
    
Um  sich Diogenes und seinen Vorstellungen von einem „einfachen Leben“ zu  nähern, begann der Altphilologe Rainer Nickel mit der Bildergeschichte  „Diogenes und die bösen Buben von Korinth“, die Wilhelm Busch 1862  veröffentlichte.
    „Busch wollte nur eine „Bubengeschichte“ erzählen „und sonst  nichts“, so kommentierte Nickel. „Wilhelm Busch zeichnete einen  Menschen, der als Opfer eines Bubenstreiches zunächst durch das  Spundloch seines Fasses nass gespritzt und dann mit diesem einen Abhang  hinuntergerollt wird. Die ,bösen Buben‘ bleiben dabei an zwei Nägeln  hängen, die zufällig im Holz stecken. Sie werden von dem Fass überrollt  und platt gewalzt. ,Diogenes der Weise aber kroch ins Fass und sprach:  ‚Jaja! Das kommt von das!‘“
    
Dieses abschließende „Jaja! Das kommt von das!“ gibt zu denken.  Worauf verweist das zweite „das“? Meint es die hyperaktive Bosheit der  Jungen und die grundlose Störung? Oder die selbstkritisch reflektierte  Apathie, die Teilnahmslosigkeit?

Wer ist denn dieser so apathische Diogenes eigentlich?
Zumal Diogenes „keine wirklich historische Person“ ist
.
    
Er  wird als „als respektlos, frech, unverschämt, unanständig, unmoralisch,  furchtlos, individualistisch, unabhängig, anspruchslos, selbstgenügsam,  asketisch, aber auch stolz und selbstbewusst, geistesgegenwärtig,  schlagfertig und gebildet, sein Handeln als unkonventionell und  provozierend beschrieben. Er soll dennoch eine außerordentliche  Überzeugungskraft und ein gewinnendes Wesen besessen haben. Seine Reden  hatten einen magischen Reiz.“
   
Antisthenes lehrte mich zwischen dem, was mir gehört,
und dem, was mir nicht gehört, zu unterscheiden.
    
In Athen soll er unter Antisthenes’ Einfluss geraten sein. „Die  Hochachtung, die Diogenes Antisthenes entgegenbringt, zeichnet der  Stoiker Epiktet nach, indem er Diogenes mit dem folgenden Satz zitiert: „Seitdem mich Antisthenes (von meinen bisherigen Meinungen und Ansichten) befreit hatte, war ich kein Sklave mehr.“ Er soll diese Feststellung folgendermaßen erläutert haben: ,,Er  lehrte mich zwischen dem, was mir gehört, und dem, was mir nicht  gehört, zu unterscheiden. Was mir nicht gehört, sind Familienangehörige,  Hausgenossen, Freunde, Ansehen, die üblichen Aufenthaltsorte, Umgang  mit Menschen.“ Ihm gehöre nur der Gebrauch seiner Vorstellungen .  Antisthenes habe ihm gezeigt, dass er über diese frei verfüge und dass  ihn niemand dazu zwingen könne, sie anders zu gebrauchen, als er selbst  es wollte. Von Antisthenes lernte er aber auch, dass man nur dann von  anderen Menschen unabhängig sei, wenn man auch von den Dingen, die man  mit ihrer Hilfe erwerben wolle, unabhängig sei.“
    Es wird weiterhin berichtet, er sei ein hervorragender Lehrer auf  allen Fachgebieten gewesen. Die Zöglinge liebten ihren Lehrer. Diogenes  scheute sich auch nicht, mit zeitgenössischen Denkern zu streiten.


„Ich sehe zwar einen Tisch und einen Becher,
aber eine Idee des Tisches und eine Idee des Bechers sehe ich nirgends.
    
Als Beispiel gab Nickel ein Gespräch des Diogenes mit Platon  wieder: Als Platon einmal seine Ideenlehre zu erläutern versuchte und  von der Idee des Tisches und der Idee des Bechers sprach, sagte  Diogenes: „Ich sehe zwar einen Tisch, lieber Platon, und einen  Becher, aber eine Idee des Tisches und eine Idee des Bechers sehe ich  nirgends.“ Daraufhin Platon: „Das war zu erwarten. Denn Augen, mit denen  man einen Becher und einen Tisch sehen kann, hast du ja. Aber die  (theoretische) Vernunft, mit der man die Idee des Tisches und die Idee  des Bechers begreift, hast du nicht.“ Das war vielleicht das einzige Gespräch, in dem Diogenes nicht das letzte Wort hatte.

Die Kunst der Parrhesia
    
Die freie Rede war die Möglichkeit, Menschen jeglichen Standes  unmittelbar, unverhüllt und unverstellt die Wahrheit zu sagen und sie  gegebenenfalls auch zu beleidigen und zu beschimpfen. Die Kyniker  hielten das Schimpfen und Beleidigen für ein wirksames pädagogisches  Mittel, das sie häufig mit einem schmerzhaften medizinischen Eingriff   verglichen.
Die Kunst der Parrhesia, die freie Rede, verwirklicht das  wohlbegründete „Selbstbewusstsein“, das die rechte Mitte zwischen  „Ängstlichkeit“ (Mangel) und „Prahlerei“ (Übermaß) bildet.
Als Mahner, so Nickel „fordert der Kyniker seine Mitmenschen dazu  auf, nicht danach zu fragen, wo man Seelenruhe finde, sondern wo man sie  nicht finde. Ebenso ist es nicht von Bedeutung zu wissen, was man  braucht. Man muss vielmehr wissen, was man nicht braucht.“

Die Antike kannte keine Probleme einer Überflussgesellschaft
    
Diogenes kann zwar mit seinen von ihm vertretenen Standpunkten  zum modernen Anti-Konsumismus und einer ökologisch orientierten  Umweltethik beitragen, wobei, so stellte der Altphilologe Nickel heraus,  er insoweit kein ökologischer Vordenker ist, da zu seiner Zeit in der  Antike Probleme einer Überflussgesellschaft im heutigen Ausmaß nicht  existierten. Der „Konsumverzicht“ des Diogenes bezog sich weder auf die  Umwelt, noch auf Ressourcen,  sondern auf die persönliche Freiheit und  Selbstbestimmung gegenüber den eigenen Bedürfnissen, gegenüber  zwanghaften Konventionen und gesellschaftlichen Autoritäten. Deshalb, um  persönliche Souveränität und Unabhängigkeit zu erlangen, ermutigt er  dazu, auf überflüssigen Besitz zu verzichten und sich auf das  Lebensnotwendige zu beschränken. Die Art und Weise der Darlegung ist  provokant, um die antiken Bürger in ihrer Sattheit, Bequemlichkeit und  Gedankenlosigkiet aufzurütteln. Aber es ging Diogenes wahrscheinlich  weniger darum, seine Mitmenschen zur Nachahmung seines Lebensstil  aufzufordern, sondern sie dazu zu ermuntern, das Gewohnte und  Selbstverständliche grundsätzlich in Frage zu stellen. So wird  wahrscheinlich auch sein provokantes Beispiel der Becher-Anekdote zu  vestehen sein:
„Als Diogenes einmal ein Kind sah, das aus den Händen Wasser  trank, riss er seinen Becher aus seinem Ranzen heraus und warf ihn mit  den Worten fort: ,Ein Kind ist mein Meister geworden in der  Genügsamkeit.‘ Auch seine Schüssel warf er weg, als er gesehen hatte,  wie ein Junge seine eigene Schüssel zerbrochen hatte und nun seinen  Linsenbrei in der Höhlung eines Brotes barg.“
    
Der Kyniker ist kein Zyniker
 Der Kyniker provoziert,
 der Zyniker resigniert.
 Der Kyniker ist zwar Pessimist,
 bleibt aber Philanthrop.
 Der Zyniker hat aufgegeben.
 Er ist ein unrettbarer Misanthrop.
  
Der Kyniker, so Nickel, fordere seine Mitmenschen dazu auf, nicht  danach zu fragen, wo man Seelenruhe finde, sondern wo man sie nicht  finde. Ebenso sei es nicht von Bedeutung zu wissen, was man brauche. Man  müsse vielmehr wissen, was man nicht brauche.
Des Weiteren sei Diogenes’ Verweigerung des konventionellen Lebens  durch Bedürfnisminimierung nicht mit dem Verzicht auf Lebensgenuss und  Lebensfreude oder gar mit der Abtötung fleischlicher Bedürfnisse  gleichzusetzen. „Für Diogenes ist Askese eine geistig-körperliche Übung  zur Steigerung der Lebensqualität.“
 
Die vor allem an der Gestalt des Diogenes veranschaulichte  kynische Lebensform zielt „auf Autarkie und Apathie, Beschränkung auf  das Existenzminimum, Ablehnung von Konvention und Gesetz, Kritik an  prominenten Persönlicheiten.“ Der kynische Lebensstil basiert weitgehend  auf der sokratischen Ethik, die von der Lehrbarkeit der Tugend  überzeugt war. Um zu zeigen, dass Diogenes kein Zyniker war, verwies  Nickel auf sein Urteil über die „Menschheit“ im allgemeinen:
"Wenn er Steuerleute, Ärzte und Philosophen bei ihrer  täglichen Arbeit beobachte, dann denke er, dass der Mensch das  intelligenteste aller Lebewesen sei. Wenn er sich dann aber Traumdeuter,  Propheten und deren Anhänger und dazu noch alle diejenigen, die sich  auf ihre Prominenz und ihren Reichtum etwas einbildeten, vor Augen  führe, dann halte er kein Lebewesen für dümmer als den Menschen.“

Zum Abschluss des 45-minütigen Vortrags, der hier nur grob angerissen werden kann, legte Rainer Nickel dar:
  
„Man kann den Kynismus des Diogenes als eine Performance des  Absurden ablehnen, sollte dabei aber nicht übersehen, dass das Konzept  des „einfachen Lebens“ nicht nur Ablehnung des Überflüssigen, sondern  auch den vernünftigen, konstruktiven, lebenserhaltenen und  wertsteigernden Umgang mit dem Gegebenen und Vorhandenen bedeutet. Denn  der richtige, besonnene und sparsame Gebrauch der Dinge ermöglicht den  schonenden Umgang mit Ressourcen. Die Ablehnung des Überflüssigen  klärt  die Sicht auf das wirklich Wertvolle, und zu den Essentials  menschlicher Würde gehört nicht zuletzt die Freiheit der Rede, die  kynische Parrhesia.“
  
In  einem längeren, aber spontan vorgetragenen Diskussionsbeitrag aus dem  Publikum trug der Marburger Philosoph Dr. Dr. Joachim Kahl, Mitglied der  NLG, einige anders akzentuierte Gesichtspunkte zur Bewertung des   Diogenes vor. Es folgt eine von ihm selbst nachträglich formulierte  kurze Zusammenfassung.
Das kynische Ideal des einfachen Lebens ist  menschen-, kultur- und fortschrittsfeindlich. Weshalb in einer Tonne  leben statt in einem Haus, weshalb Wasser aus einer Handmulde trinken  statt aus einem Becher? Das  sind exzentrische Absonderlichkeiten, auf  die ein wirklich Bedürftiger gerne verzichtet. Epikur hat mit seiner  Philosophie eines maßvollen und vernunftgeleiteten Genusses den klügeren  und menschenfreundlicheren Entwurf zu einer alltagstauglichen  Lebensphilosophie vorgelegt. Wohin das kynische Ideal eines einfachen  Lebens widerspruchsfrei führt, zeigen die beiden Einzelaspekte aus dem  Leben des Diogenes. Er verrichtete seine Notdurft gerne dort, wo er  gerade weilte. Jedenfalls verschmähte er die dafür eingerichteten  Örtlichkeiten. Und er befriedigte sich gerne sexuell selbst öffentlich  auf dem Marktplatz und  kommentierte seine anstößige Handlung mit der  Bemerkung: Wie leicht wäre doch das Leben, wenn wir auch die Bedürfnisse des Bauches durch ein wenig Reiben befriedigen könnten?! Die  Wonnen einer verfeinerten Erotik und eines Feinschmeckertums hat  Diogenes nie kennengelernt. Streben wir nicht nach einem einfachen  Leben, sondern nach einem kultivierten Leben, das auch Elemente des  einfachen Lebens in sich enthält.
  

Zum vergrößern der Bilder bitte Bild   anklicken.
                             
    
Uni im Café 20
Nickel, Rainer
 Das einfache Leben
 Diogenes in der Tonne

 Kartoniert: 108 Seiten
 8 s/w Seiten, 2 Farbabbildungen
 ISBN 978-3-943556-63-6
 9,90 €


Diogenes ist  einer der bekanntesten philosophischen Lebenskünstler des vierten  vorchristlichen Jahrhunderts. Er war ein Zeitgenosse Platons, den er  immer wieder herauszufordern und anzugreifen versuchte. Was wir von  diesem Mann und seinen Vorstellungen wissen, verdanken wir späteren  Autoren. Von seinen eigenen Werken ist nichts erhalten. Sein  abenteuerliches Leben und seine radikalen Ideen, die die Welt auf den  Kopf zu stellen versuchten, lösten zahlreiche Anekdoten aus, die bis auf  den heutigen Tag faszinieren. Sie erzählen unter anderem von dem Mut,  den er im Umgang mit den Mächtigen seiner Zeit bewies. Er beeindruckte  sogar Alexander d. Großen, in dessen Schatten er aber nicht leben  wollte.
Diogenes experimentierte mit alternativen Lebensformen, die die  Phantasie auch des modernen Menschen anregen. Die Botschaft aus der  Tonne lautet: Das „einfache Leben“ des Diogenes ist möglich und in  Zukunft vielleicht sogar notwendig, aber alles andere als einfach.

Rainer Nickel  ist zur Zeit Lehrbeauftragter am Seminar für Klassische Philologie der  Universität Marburg. Schon vor seiner Promotion (1970) an der Freien  Universität Berlin unterrichtete er als Lehrer der alten Sprachen an  verschiedenen Gymnasien. Bis zu seiner Pensionierung (2005) leitete er  zwei Jahrzehnte lang als Oberstudiendirektor das Göttinger  Max-Planck-Gymnasium. Er veröffentlichte zahlreiche Arbeiten zur  Didaktik des altsprachlichen Unterrichts und zur antiken Literatur. Zu  seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die Theorie und Praxis des  Übersetzens und die Frage nach der Gegenwart der Antike in unserer Zeit.

Weitere Bücher des Autors
Xenophon. Leben und Werk, Marburg 2016.
Übersetzen und Übersetzung. Anregungen zur Reflexion des Übersetzens im    altsprachlichen Unterricht. Ars didactica 3, Speyer 2016.
Lexikon der antiken Literatur, Marburg 2014.
Antike Kritik an der Stoa, Lateinisch-griechisch-deutsch, Berlin 2014.
Der verbannte Stratege Xenophon und der Tod des Thukydides, Darmstadt / Mainz 2014.
Senca. De vita beata. Das glückliche Leben, Berlin 2012.
Besitzen  und Gebrauchen. Spielarten einer Gedankenfigur. Nova Classica.  Marburger Fundus für Studium und Forschung in den  Altertumswissenschaften,  Marburg 2012.
Heureka! Lukianss Markt der Philosophen, Darmstadt / Mainz 2012.
Plutarch: So nicht Epikur!, Berlin 2011.
Cicero. Orakelkunst und Vorhersage, Mannheim 2011.
Die Berühmten. Griechische Schriftsteller, Mainz 2010
Kahl, Joachim
  Benedikt Spinoza (1632 – 1677)  Philosoph von Weltrang
und Türöffner der europäischen Aufklärung
Kartoniert, 48 Seiten, 6 Farbabbildungen,
ISBN 978-3-943556- 46-9
Preis 8,75 €


Nach seinem Ausschluss aus der Amsterdamer portugiesischen Synagogengemeinde mit dem großen Bannfluch im Alter von 24 Jahren wegen „schrecklicher Ketzereien“ und „ungeheuerlicher Handlungen“ schloss sich Spinoza keiner anderen Religionsgemeinschaft an und teilte keinen monotheistischen Offenbarungsglauben mehr. Und doch verfiel er nicht, wie es der gängigen Ketzer- und Apostatenpolemik zufolge hätte geschehen müssen, der Unzucht. Er wurde kein Trunkenbold, kein Betrüger. Seine noble menschliche Art und sein redlicher Broterwerb als Schleifer optischer Gläser erweckten allgemein Erstaunen und Argwohn. Seine bürgerliche Existenz war nicht ernsthaft gefährdet, weil in den Niederlanden Gewissens- und Glaubensfreiheit relativ fest verankert waren. Seine philosophische These „Gott oder Natur“ entthronte den außerweltlichen Himmelsmonarchen und Schöpfergott. Spinoza begründete eine Naturund
Vernunftreligion, die freilich von Anfang an unter allseitigem Atheismusverdacht stand, da sie auf jeden Transzendenzaspekt verzichtete. An die Stelle des Glaubens trat bei ihm die „geistige Gottesliebe“, die Gott in den Dingen aufsuchte und damit die gesamte Wirklichkeit einer empirischen und rationalen Erforschung freigab.
Joachim Kahl, geboren 1941 in Köln. Dr. theol (1967) und Dr. phil. (1975). Vertritt eine Philosophie eines säkularen Humanismus, zu deren Ahnen auch Spinoza zählt. Eigentümlichkeit: Entwicklung einer weltlichhumanistischen Spiritualität. Hauptwerke:
„Das Elend des Christentums oder Plädoyer für eine Humanität ohne Gott“ (1968; 1993; 2014) und „Weltlicher Humanismus. Eine Philosophie für unsere Zeit“ (2005). Ständige Ergänzungen, Korrekturen, Aktualisierungen zu allen behandelten Themen sowie Kunstinterpretationen auf der Homepage unter der
Rubrik „Texte“, die kostenlos herunter geladen werden können.

www.kahl-marburg.de
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