Kleines Lexikon intimer Städte Jurij Andruchowytsch-19-03-2017 - Verlag-Blaues-Schloss

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Kleines Lexikon intimer Städte
Jurij Andruchowytsch
So, 19. März, 11 Uhr, Café Vetter

Manchmal denke ich, im gegenwärtigen Westen gibt es nichts Literarisches, weil hier die Autoren und Leser zu viel zu essen haben. Die dauerhafte Sattheit ist der größte Feind des Jagens, denn sie   zerstört, oder ganz wörtlich genommen, frisst die Voraussetzung zu einer  erfolgreichen Jagd auf. So ist Wohlstand gleichzeitig auch der Totengräber des Wohlstandes.

Im Osten hingegen hört man nicht nur ein literarisches Knurren   der Mägen, sondern man hört den Klang der Worte wie das tiefe Tönen der  Goldadern im Erdreich der Entbehrungen und hört gleichzeitig die  Treffsicherheit einer Kalaschnikow.

Diese Autoren und diese Leser wissen nämlich wovon sie reden. Nur   der Jäger im tiefen Schnee weiß, welche Eisblumen ihm blühen, wenn die  Jagd nicht erfolgreich ist. Manchmal denke ich, ist eben das Pauschale  das Original und das Vorurteil die gute Menschenkenntnis. Das Vorurteil kommt zumeist nach  der Erfahrung. All das haben wir im Westen, besonders in Deutschland,    nicht mehr, und deshalb werden wir bald auch nichts mehr haben. Der  fett   gewordene Jäger wird zum Gejagten.

Aber wo beginnt eigentlich der Westen? In dem Moment, wo ich mich    nach Westen drehe? Und der Osten, in dem Moment, wo ich mich zum Osten    hinwende? Genaugenommen ist es so. Oder der Norden, wo fängt der    eigentlich an? Oder der Süden?

Dazu hatte der Autor Jurij Andruchowytsch Erhellendes zu berichten: In Lemberg, so trug er aus seinem Buch Kleines Lexikon intimer Städte  vor, habe man das Problem insoweit gelöst, das sich die einstigen    Erbauer genau an jene Stelle niedergelassen hatten, entlang einer Linie,    von der aus zum Norden hin alle Wasser zum Norden flossen und zum  Süden   alles Wasser zum Süden. Auf diesem Stuhl sitzend, genau zwischen  den   Meeren, war der Lemberger ihnen insoweit gleichermaßen nahe, dass  die   beiden Meere, die Ostsee im Norden und das Schwarze Meer im  Süden,   gleich weit entfernt waren. In diesem Sinn jedenfalls  berichtete   Andruchowytsch von der ersten Stadt, zu der er dem Publikum  aus seinem   Stadtalbum etwas vorlas.

Andruchowytschs Alphabet der Städte begann aber mit A wie Aarau und endete mit Z wie Zug.    Beides Orte in der Schweiz nur gut sechzig Kilometer auseinander. An    der Kürze dieser Weltreise war das lateinische Alphabet schuld. Das    ukrainische hingegen, dieses von A bis Я bot ganz andere Möglichkeiten.

War den Lembergern immerhin die gleiche Nähe zu den Meeren    gelungen, so war es gleichzeitig eine recht ungelungene Hafenstadt. Und    in Ermangelung – eben verursacht durch die Liebe zur Gleichheit –  einer   Küste und einer großen Mündung, fehlten auch „Aquatorium, Kais,  Güter-   und Passagierdocks, Kräne, Kähne und 24-Stunden-Spelunken.“

Diese    Not machte erfinderisch. Deshalb so viele Delphine an den  Häuserwänden.   Wenn schon nicht ein kühles Nass am Körper und in der  Kehle, dann   wenigstens ein fotografisches Meer von kühl glitschigen  Delphinen. Wer   aber nun meint, Lemberg sei keine Hafenstadt,  der hat die   Alantikaale im unterirdischen Fluss der Kanalisation  vergessen. Und   diese Aale aus Sargossa haben noch ganz den Ozean im  Blut und im Ohr.   Sie sind die wahren Seeleute, die wahren Ulyssesgestalten und weisen den überirdisch im Trocknen Dümpelnden den Weg zum Meer.

So auch das folgende Gedicht von Jurij Andruchowytsch:

 Es klingt ganz wahscheinlich –
  die Lemberger Oper wurde erbaut
  direkt über dem frisch zugeschütteten Fluss,
  in gewisser Weise
  kann man sie als gewaltigen Flussgrabstein bezeichnen,
  oder sogar als Mausoleum.
  Dann aber müssten
  die feinfühligsten unter den Musikern
  im Orchestergraben auch hören
  (dafür haben sie das Gehör)
  Wie die Aale in der erstickenden Finsternis der Röhren
  sie mit Zittern und Summen erfüllend
  fast stöhnend
  in die einzig mögliche atlantische Richtung drängen.
  Man weiß, dass Aale
  sogar in Kanalröhren überleben können,
  womit sie den Bürgern der Stadt
  nicht nur Hoffnung,
  sondern auch Bespiel geben.

Da wir schon beim Aroma der Kanalröhren waren, schloss der Autor an das ganz besondere Aroma des Wortes „Odessa“ an.
Odessa  1994. Ganz besonders für die, die nie dort waren. Wo man nicht war,    darüber hat man gut reden. Ein recht doppelbödiger Satz. Wie auch diese    Sätze: „ Odessa kennt man in der ganzen Welt. Vielmehr kennt man es    nicht, obwohl man es kennt. Am korrektesten wäre also zu sagen, dass man    Odessa nicht kennt, das aber in der der ganzen Welt.“
  Wie schimmern in dieser Argumentation noch die letzten Anklänge von Radio Eriwan  und auch materialistische Dialektik. Recht unmaterialistisch hingegen    des Protagonisten Sonnenstich in den Sommerferien, in denen es, trotz    Pflaum auf der Oberlippe, keinen wahnsinnigen Sex gab: dafür aber jener    heiße Speer ganz unerwartet von oben, − der ihn senkrecht durchdrang,    und er danach plötzlich ein Dichter war.

Trefflich treffend getroffen. Die Länge dem Speer, aber ich muss    mich kurz halten. So springe ich mit dem Autor zur letzten Geschichte,    und somit auf den Zug in die Schweizer Berge nach Zug. Meine Ahnung, dass fest emporragend Horizontales Verwandtschaft mit Mauern  und   Wänden habe, bestätigte sich sogleich, und auch, dass Horizontales  den   Anfang vom Ende recht nahelegen kann. Nimmt die Horizontale sogar    vierfachen Umfang an, dann ist man entweder in den Schweizer Bergen  oder   in einer Gefängniszelle. Die Freiheit des Gipfels ist nur wenigen    vorbehalten. Aber die schicken hin und wieder freundlich mosaische    Botschafter in die Tiefe des Tales hinab, obwohl eigentlich die Ebene,  die Vertikale, der Freiheit erst seine ganze Weite entfaltet.



Bleiben wir beim Optimismus. Die drei Meter hohe Betonmauer des Gefängnisses von Zug  kann man problemlos als eine nach oben verirrte Vertikale auffassen. So    auch die Unfreiheit. Der Gefängnisdirektor zudem, sah die  Manifestation   des Horizontalen durch und durch positiv. Und begründete  das sogleich   sanftmütig und wohlwollend: Denn, „Die Menschen sind  hier genauso unglücklich.“ – Wie draußen meinte er wohl. – – – Macht selbst die Vertikale nicht  glücklich? Diese Frage wollen wir unserem Optimismus lieber nicht    erlauben. Optimismus verlangt grundsätzlich gewisse Frageverbote zum    Schutz des Optimismus.

Zum Abschied schenkte der Gefängnisdirektor, als der wahre Hüter    der Freiheit, dem Protagonisten einen Pepperstein-Bildband mit den    Gefängnisarbeiten. „Hier stehen viele Gedanken über die Freiheit und die Unfreiheit drin. Es wird Ihnen gefallen“, sagte er.

Städtebilder:
  1. Lestat (Jan Mehlich) put it under GFDL and Creative Commons Attribution ShareAlike 2.5
  2. Odessa Opera and Ballet Theatre.Wikipedia
  Одесский театр оперы и балета
  Одеський театр опери та балету
  3. Panorama of Historical Zug, Tim Dellmann. Wikipedia

Zum Buch:
Jurij Andruchowytsch
Kleines Lexikon intimer Städte
Gebundene Ausgabe: 416 Seiten
Insel Verlag; Auflage: 1 (11. September 2016)
Originaltitel: Keksykon intymnych mist
ISBN: 978-3458176794
24,00 €
Juri Andruchowytsch, »der poetische   Landvermesser«  (FAZ) aus der Unruhezone Ukraine, hat viel Zeit   investiert, um sich  mit fremden Städten anzufreunden, die ihm Schutz und   Ruhe gewähren  sollten. In manchen ist er eine Weile hängengeblieben.  Andere wurden  zu Lebensstationen: »München beginnt gleich hinter Moskau, das Alphabet harmoniert mit der Zeit« – denn München war die erste  deutsche Stadt, die der junge Autor aus der untergehenden Sowjetunion    besuchte, um ganz in der Nähe, am Starnberger See, seine Moscoviada zu  schreiben.
Diamantenläden statt Zimtläden – eine Gasse in Antwerpen, chimärisch, als wäre sie von Bruno Schulz erfunden. Soziologie der   Straßenmusik in Berlin. Mit Andrzej Stasiuk im hundertgeschossigen  InterContinental in Bukarest. Zu Besuch im tragischen Museum in Charkiw.  Unterwegs durch verlassene Gärten in Detroit. Novi Sad. Odessa. Paris. Prag.  Stuttgart. Toronto. Ushgorod. Venedig. Ein Alphabet der  44 Städte   auf drei Kontinenten.
In diesem originellen Reisebrevier verquickt Andruchowytsch    Herzensgeschichten mit politischer Polemik, Klischee mit Epiphanie, die    Anekdote mit Romanentwürfen. Doch wie dieser Stadtnomade seinen Blick    schult, um im unscheinbaren Detail ein Gefühl für das große Ganze zu    entwickeln, macht Lust darauf, es ihm gleichzutun.
(Covertext-Inselverlag)

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