Veranstaltungen aus dem Jahr 2020:
Marburger Literaturpreis
Verleihung an Prof. Dr. Rüdiger Safranski
Lesung aus seinem Buch "Einzeln sein"
Dienstag, 14. September 2021, 17 Uhr, Pfarrkirche Marburg
Einleitung von Ludwig Legge
„Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich freue mich, Sie begrüßen zu können an einem für uns ungewohnten Ort: in der Pfarrkirche Sankt Marien. Es ist mir eine ganz große Freude heute auch Rüdiger Safranski begrüßen zu dürfen. Ganz herzlich möchte ich bei dieser Gelegenheit Frau Sevin Yüzgülen die in Vertretung von Oberbürgermeister Dr. Spies anwesend ist.
Meine Damen und Herren, seit 30 Jahren kommt Rüdiger Safranski nach Marburg zur Neuen Literarischen Gesellschaft und hat in dieser Zeit seine Bücher vorgestellt. Es gab im Café Vetter keine einzige Lesung in dieser Zeit, die nicht überfüllt gewesen wäre.
Es gibt nun aber auch einige Leute, die fragen: „Warum bekommt eigentlich Rüdiger Safranski diesen Preis?“
Als Antwort darf ich Ihnen den Text der Urkunde vorlesen:
Unsere Mitglieder und zahlreiche Besucher haben den Marburger Literaturpreis dem Schriftsteller, Biographen und Philosophen Rüdiger Safranski für sein Gesamtwerk zuerkannt.Sie ehren damit Dr. Rüdiger Safranski für seine Bücher über die Weimarer Klassik, deren hohen humanen Gehalt, ihre sprachliche Meisterschaft und das Zeitüberdauernde er ins gegenwärtige Bewußtsein gebracht hat. Hinzu kommen die Auseinandersetzungen mit Philosophen wie Schopenhauer, Nietzsche und Heidegger.Seit dreißig Jahren hat er seine wichtigen Bücher im Café Vetter vor großem Andrang von Zuhörern und Lesern vorgestellt.Seine philosophischen Bücher ergänzt er um das soeben erschienene Buch „Einzel sein“, das angesichts der derzeitigen Lage ein wichtiger Kompass ist.Sein Einsatz macht angesichts der Digitalisierung Lust zum lesen.
Meine Damen und Herren, 30 Jahren hat Safranski Zuhörer und Leser zum Lesen, und ich hoffe auch, zum Wiederlesen, angeregt. Seine philosophischen Bücher werden ergänzt durch das soeben erschienene Buch „Einzeln sein“, das wie bereits in der Urkunde erwähnt ‚ein wichtiger Kompass in derzeitiger Lage ist. Der Preis wird von der Universitätsstadt Marburg unterstützt.“
Zum Vortrag:
Allein auf sich gestellt zu sein erleben viele Menschen als Unglück, andere sehen es als Herausforderung, zu sich selbst zu finden und einen eigenen Platz gegenüber der Gemeinschaft zu erlangen.
Eine Spannung wie sie mönchisches Dasein hervorruft. Dazwischen hat es immer wieder Versuche gegeben, auf eindrucksvolle Weise einzeln zu sein. Safranski prüft die Antworten, die Philosophen von Michel de Montaigne bis zu Jean-Paul Sartre darauf gefunden haben.
„Jeder ist ein Einzelner, aber nicht jeder ist damit einverstanden.“
„Es kommt stets darauf an“, so lenkt Rüdiger Safranski auf das Thema „Einzeln sein“ hin: „wie der Einzelne Probleme seines einzelnen Seins angeht und erträgt.“
Und weiter führt der Autor dazu aus: Fasst der Einzelne sie als Einsamkeit auf, als schicksalshafte Gegebenheiten, als biologische Prägungen, oder als gesellschaftliche Verflechtung? Übernimmt er sie oder hadert er mit ihnen? „Meistens entscheidet man sich für irgendwas dazwischen“, schließt Safranski diese Gedanken.
Warum aber nun dazwischen?
Deshalb, weil: „Der einzelne möchte zwar sich selbst gehören aber auch zugehörig sein.“ Der Einzelne hat die Wahl „die Vereinzelung unfreiwillig erleiden oder sie freiwillig in Kauf nehmen.“
Aber was zeichnet nun den Vereinzelten aus?, mag der Interessierte fragen.
„Es ist das", so führt der Autor weiter ins Buch hinein: „was ihn von anderen unterscheidet. Und er bringt es auf den Punkt „Nicht das Gleichsein, sondern der Unterschied soll anerkannt werden“.
Es geht dem Einzelnen also um den Unterschied und um die Anerkennung. Der Unterschied betrifft ihn selbst, die Anerkennung hingegen vollzieht die Gesellschaft.
Dazu gibt Safranski aus der Renaissance zwei Beispiele:
So schreibt Leonardo Da Vinci in sein Tagebuch: „Darauf kommt es an, irgend eine Erinnerung im Geiste der Sterblichen zu hinterlassen.“
Diese Euphorie des Künstlertums teilt auch Giovanni Pico della Mirandola. Er ist wohl der bedeutendste Philosoph der Renaissance. Er schreibt in der Abhandlung 1486 „Über die Würde des Menschen“: „Es steht dir frei, in die Unterwelt des Viechs zu entarten, es steht dir ebenso frei, in die höhere Welt des göttlichen Dich durch den Entschluss deines eigenen Geistes zu erheben.“
Dieses Freiheitsverständnis setzte eine „ungeheure Dynamik der Selbstbehauptung“ in Gang. „Das Leben mit der Vielfalt konkurrierender Individuen war ein Brutkasten der Vitalität.“
Schon damals also die grenzenlose Freiheit nicht nur über den Wolken?
Giovanni Pico della Mirandola | Botticelli paintings, Sandro botticelli
Ganz so alleinbestimmend scheint die Freiheit aber nun doch nicht zu sein. Selbst in der Renaissance, die „mehr auf die Seite des Ichs als auf die Seite des Wir stand“ und in der sich die „starke Ich-Bezogenheit glanzvoll gezeigt hat“, kippte phasenweise die individuelle Freiheit um im kollektiven religiösen Wahn der Restriktion und Verfolgung, bemerkte der Autor. Ein Wahn aber, der wiederum durch ein Individuum entflammt wurde, wie z.B. durch den religiösen Fanatiker Girolamo Savonarola (1452-1498).
Foto: Karl-Heinz Schumacher
„Luther hatte das Bestreben ein ganz persönliches Verhältnismit einem ganz persönlichen Gott herzustellen.“
Bis Martin Luther hin wirkte die Renaissance, auch wenn er nicht so viel von ihr hielt. "Sein individueller Kult wurde dann aber so dogmatisch wie der alte." Denn der Umschwung durch den Impuls des Einzelnen brachte auch die kollektiven Mächte in Bewegung. Diese wiederum wirkten auf den Einzelnen zurück. Wie zum Beispiel auf Michel de Montaigne, der sich wie ein Kontrapunkt zu Martin Luther verhält, weil er bereits mit dem Fanatismus der politischen Religion in Frankreich konfrontiert ist. „Montaigne“, so erläutert der Autor, „sucht Zuflucht vor dem religiösen kollektiven Wahnsinn“ in private Abgeschiedenheit.
Portrait of Michel de Montaigne by unknown painter in the Musée Condé
Auf weitere Gruppierungen von Einzelnen verweist Safranski, wie zum Beispiel auf Stendhal, Jean-Jacques Rousseau, Denis Diderot. Und für das 19. Jahrhundert stehen die Begründer des Existenzialismus wie Max Stirner, anarchisch radikal gegen gesellschaftliche Zwänge oder Henry David Thoreau, der die „Gespenster der Gesellschaft verscheuchen will“, gefolgt von Martin Heidegger, Karl Jaspers, Jean Paul Sartre und Hannah Arendt. Sie hatte bereits als Schülerin Sören Kierkegaard gelesen, worauf sie sich für protestantische Theologie zu interessieren begann, die sie schließlich bei Rudolf Bultmann studierte, indessen bei Martin Heidegger Philosophie.
Vom Wunder des Einzelnen oder der Geburt
Bei Hannah Arendt verweilte der Autor eine längere Zeit, wohl auch, weil sie mit der Stadt Marburg verbunden ist.
Während sie „vom Wunder des Einzelnen“ spricht, gibt Heidegger dem Verschwinden des Einzelnen in der Sterblichkeit eine existenzielle Bedeutung.
Der Autor fasst zusammen: „Heidegger bezieht sich emphatisch auf das Ende, Hannah Arendt auf den Anfang.“ Die Geburt ist für sie „ein Anfang eines Lebens, das selbst im Besitz der Fähigkeit ist, anzufangen.“
Portrait of Hannah Arendt in 1924
Doch dem Selbst-Anzufangen geht ein Angefangen-Sein voraus. Bereits Immanuel Kant spricht vom „Skandal des Anfangs, den man erlitten hat.“ Nach Kant sei der Mensch ein Erdenbürger, für dessen Anfang eine Tat der Eltern steht, die eigentlich eine Untat ist, weil sie eine Person, ohne ihre Einwilligung in die Welt gesetzt hat. Selbst anzufangen hingegen, das sei die zweite Geburt. Und es sie die Aufgabe der Eltern, diese zu ermöglichen und das Kind die Freiheit der Vernunft zu führen.
„Denken bedarf des Alleinseins“
Und Vernunft hat mit Denken zu tun. So liegt es für Hannah Arendt nahe, dass beim Denken das Problem des einzelnen Seins im Mittelpunkt im steht. stellt sie fest. Es benötigt die zeitweilige Unterbrechung des Kommunikationsflusses. „Denken vereinzelt“, schließt Hannah Arendt weiterhin. Doch Denken selbst gibt es nur dort, wo es wirklich vollzogen wird: Allein und unvertretbar.
Mag zwar denken vereinzeln aber es macht nicht einsam. Denn „es bleibt in Gesellschaft. Und zwar in Gesellschaft mit sich selbst.“ Denken ist mit der Erfahrung des inneren Gesprächs mit dem inneren Selbst verbunden. Hannah Arndts zentraler Gedanke ist: Das Denken ist existenziell gesehen etwas, dass „man allein tut. Aber nicht einsam“. Allein sein heißt, mit sich selbst umgehen. Einsam heißt Alleinsein. Das Denken kommt dem nahe, so nimmt Safranski Hannah Arendts Faden auf, was man „Gewissen“ nennt. Es geht darum so zu handeln, dass man mit sich selbst in Übereinstimmung bleiben kann.
„Der Abbruch der Beziehung mit sich selbst“
Nach Hannah Arendt ist Unrecht zu erleiden besser als Unrecht zu tun. Safranski führt Sokrates als Beispiel an, welcher dazu sagt: „Das Unrecht tun beschmutzt so sehr, dass er, wenn er allein ist, das Denken oder das Zwiegespräch meidet, weil er es mit sich selbst nicht aushält. Er bricht die Verbindung zu sich ab.“
Dieser Abbruch der Beziehung mit sich selbst erfüllt nach Hannah Arendt den Tatbestand des Bösen. Genau das traf, so Hannah Arendt, auf Eichmann zu, der sich um den Weg des Nachdenkens über das Denken über dieses eigentümliche „Zwei in einem“ gebracht hat. Eichmann war nicht dämonisch, sondern von erschreckender Normalität. Eichmann war ein Einzelner, der sich auf eklatante Weise weigerte, ein Einzelner zu sein.
Zur Schlussbetrachtung in „Einzeln sein“
In seiner Schlussbetrachtung skizziert Safranski, wie schwierig es ist, in der Reiz- und Kaufschwemme der gegenwärtigen Welt zu seiner eigenen Eigenart zu finden.
Als allgemeines literarisches Beispiel gab er Franz Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“ und kommt zur folgenden Interpretation:
Der Mann vom Lande befindet sich in einem heillosen Missverständnis. Er sucht ein allgemeines Gesetz für alle und sitzt doch vor dem eigenem, dem individuellen Gesetz. Aber er wagt es nicht einzutreten und wartet auf die Erlaubnis. Er hätte dem mächtigen erscheinenden Türhüter zum Trotz eintreten müssen. Es war ja sein Eingang gewesen. Zu spät! Jetzt wird er geschlossen.
*
Was ist das individuelle Gesetz und was ist das allgemeine Gesetz? Welche Verbindung gibt es zwischen ihnen? So schaut der Einzelne auf die anderen, aber die anderen schauen auch auf den Einzelnen. Nur wird die „Gesellschaft“ dann etwas anderes sein als nur die Summe der Einzelnen. So wie der Einzelne wirkt, so wirkt auch das Kollektiv. Der Zeitgeist springt zwischen Ich-Pol und Wir-Pol hin und her. Fast kann gefragt werden: Wer ist die Henne und wer ist das Ei? Oder, wer ist eigentlich der Urheber der Entwicklungen. Treibt der Einzelne die Gesellschaft voran oder treibt die Gesellschaft den Einzelnen vor sich her? Wer ist Amboss und wer ist Hammer? - Oder tauschen sich auf rätselhafte Weise hin und wieder die Rollen?